WerkstattAtelier
Peter Krullis
Haben wir heute noch auf Grund unserer Geschichte eine Verantwortung gegenüber a: Jüdinnen und Juden oder der jüdischen Kultur in Deutschland? - oder
b: gegenüber dem Staat Israel?
​Zu a: (fast) alle der Befragten bejahten den ersten Teil der Frage, hier einige Aussagen:
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Ein uneingeschränktes JA. Ich fühle mich nicht schuldig, aber verantwortlich, dass so etwas nie wieder geschieht.
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Die werden wir immer haben (in beiden Bereichen).
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Die Gegenwart ist ohne die Vergangenheit nicht zu denken. Also bleibt die Verantwortung, aber eben auch als Chance für alle.
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Wir haben die Verantwortung, dass sich Juden und Jüdinnen in unserer Gesellschaft sicher fühlen und ganz selbstverständlich ohne Angst ihr Leben, ihre Religion, ihre Kultur leben und gestalten können. Diese Verantwortung haben wir aber auch gegenüber anderen Menschen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Religion, Kultur etc. diskriminiert und angegriffen werden.
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Wir müssen eine (neue) konstruktive Form finden, wie wir diese einlösen. Reines Gedenken hilft da nicht unbedingt weiter für die jüdischen Leute in Deutschland heute.
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Menschenrechte sind unteilbar. Dazu gehören die Grundrechte, die für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Staates gelten müssen; die Wahrung der Religionsfreiheit gehört unabdingbar dazu.
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Bis zum Nazi-Deutschland gab es hier über eine halbe Million Juden. Durch den Holocaust und die Verdrängung dieser Menschheitskatastrophe in den folgenden Jahrzehnten haben die Deutschen einen großen Nachholbedarf an Wissen über jüdisches Leben und eine Bringschuld gegenüber den Menschen jüdischer Herkunft. Seit es hierzulande wieder mehr jüdische Menschen gibt (seit rund 30 Jahren) haben wir erst recht die Verantwortung dafür, dass sie hier ohne Ängste und ganz normal hier leben können.
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Heute sind wir im Angesicht der Opfer verpflichtet, jüdisches Leben in Deutschland wieder zu ermöglichen und gefahrenfrei zu erhalten – darum auch mein Kampf gegen jede Spielart von Antisemitismus.
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Aus dem, was durch Deutsche an Juden verübt wurde, erwuchs ein besonders belastetes und gerade dadurch sehr enges Beziehungs-Band. Das empfinde ich einfach als eine Tatsache.
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Als der Staat Deutschland und als Menschen haben wir diese Verantwortung in historischer Dimension. Hier findet zurzeit ein Wandel statt, da die so genannte Täter*innen-Generation bald verstorben sein wird. Diese Verantwortung muss neu definiert werden und sollte m. E. aus menschlicher Sicht auch grundsätzlich für Verfolgte gelten, die heute bei uns Schutz suchen.
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Wir müssen den Wert der jüdischen Kultur schätzen lernen. Das jüdische Denken muss selbstverständlich Teil unserer Welt sein und darf nicht von einer nichtjüdischen Perspektive aus bewertet werden.
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Dieser Verantwortung werden wir am besten dadurch gerecht, dass wir eine tolerante Gesellschaft werden und jede dem Grundgesetz verpflichtete Minderheit respektieren.
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Die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung ist wichtig, ich würde mir nur wünschen, dass wir die Dimension der Verfolgung und Ausgrenzung besser wahrnehmen, und zwar nicht nur die des Nationalsozialismus.
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Diese unsägliche „Schlussstrichdebatte“ (die mitunter geführt wird) ist sehr schlimm. Wir haben in erster Linie eine Verantwortung den Jüdinnen und Juden gegenüber, aber auch den Sinti und Roma sowie den Menschen mit Behinderung. Es gibt noch weitere Opfergruppen.
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Einer der Befragten merkte kritisch an: Die Verantwortung gegenüber anderen Gruppen, droht leider in der Lautstärke der jüdischen Lobby mit ihrem „Alleinleidensanspruch“ unterzugehen.
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Ich traf Israelis, die nicht daran interessiert waren, dass sich Deutsche immer nur schuldig fühlten. Sie wollten mir nicht als Opfer begegnen, sondern als Partner*innen.
Zwei der Befragten richteten ihre Sicht ausschließlich auf eine allgemeine historische Verantwortung:
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Nein. Das sehe ich nicht so. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber der Geschichte. Geschehenes weiterhin zu thematisieren, dazu haben wir eine Verpflichtung. Und wir haben die Verpflichtung die Zukunft bezüglich faschistischer Entwicklungen eindeutig zu lenken. Dem Staat Israel gegenüber habe ich keine Verpflichtungen.
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Ich denke, die einzige Verantwortung, die bestehen bleiben sollte, liegt darin, dafür zu sorgen, dass sich der Holocaust nie wieder wiederholen kann!
Vorbemerkung zu Frage b: der der Verantwortung gegenüber dem Staat Israel:
Diese wurde von mir in den Fragebogen aufgenommen, da sie seit Gründung der Bundesrepublik, bis heute, immer wieder politisch und gesellschaftlich aufgegriffen und auch medial thematisiert wird. Sie ist dadurch nicht nur Teil der offiziellen Erinnerungskultur und Politik Deutschlands geworden, sondern auch Bestandteil unseres eigenen Umgangs mit historischer Verantwortung, mit der wir uns immer wieder neu auseinandersetzen sollten (müssen) - gerade auch im Zusammenhang mit dem „Thema Antisemitismus“.
Manche Meinungen, die in den Fragebögen vertreten wurden, lassen eine (starke) kritische Haltung gegenüber der (gegenwärtigen) Politik Israels erkennen, weshalb ich Folgendes besonders betonen will:
Ausdrücklich nicht beabsichtigt ist, Verknüpfungen herzustellen, zwischen „jüdisch sein“ und Handlungen des Staates Israel oder israelischer Politik.
Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Musliminnen und Muslime sind - wie Angehörige einer jeden Religion - zuerst Menschen (religös oder nichtreligiös) und danach Bürgerinnen und Bürger eines Staates, deren Haltungen und politische Überzeugungen man gut oder schlecht finden kann.
Politisches Handeln zu benennen (oder gar umzudeuten), um (bewusst oder unbewusst) antisemitische Haltungen oder Handlungen „als scheinbar objektiv und gerechtfertigt“ (manchmal sogar als zwangsläufige Reaktion) erscheinen zu lassen, ist falsch und gefährlich. Leider ist diese Gleichsetzung in den letzten Jahren in Bezug auf Israel verstärkt zu beobachten und Jüdinnen und Juden in aller Welt werden so in „Sippenhaft“ genommen.
Zu Frage b: mehrheitlich wurde geäußert:
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Ja, als (deutsche) Menschen haben wir eine Verantwortung dafür, dass das Existenzrecht Israels geschützt wird – Deutschland muss sich für die Existenz des Staates Israel einsetzen, es ist unzulässig dies in Frage zu stellen.
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Der Staat Israel ist ganz wesentlich auch deshalb entstanden, weil Juden aufgrund ihrer langen und oft leidvollen Geschichte einen Staat brauchten, in dem sie sich sicher fühlen konnten. Deshalb muss das Einstehen für den Staat Israel deutsche Staatsräson sein und bleiben.
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Wir haben als deutscher Staat die Aufgabe, den Staat Israel und sein Recht auf Selbstverteidigung seiner Grenzen anzuerkennen.
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Israel ist im Grundsatz (nicht unbedingt in der derzeitigen Form) als eigenes mögliches Lebens- und Staatsgebiet für Jüdinnen und Juden zentral wichtig.
Aber: Verantwortung gegenüber Israel ist nicht gleichbedeutend mit einer kritiklosen Solidarität mit israelischer Politik. -
Ein kritischer und konstruktiver Dialog zwischen befreundeten Staaten kann eine positive, dem Frieden und der Toleranz verpflichtete Entwicklung beider Seiten befördern. Dieser trägt letztendlich auch zur Sicherung der Existenz Israels bei.
Sehr häufig wurden Einschränkungen in Bezug auf die Verantwortung gegenüber dem Staat Israel, bzw. der israelischen Politik deutlich geäußert. Kritik wird als notwendig und die Reaktion auf diese Kritik – wenn „automatisch als (politischer) Antisemitismus“ gebrandmarkt - als problematisch empfunden:
Zwei Beiträge fassen das ganz gut zusammen:
Das ist, finde ich, eine sehr schwierige Frage – ich habe sie mir angesichts der Eskalation der Nahostkonflikts in Jerusalem dieses Frühjahr (2021) auch gestellt.
Ich glaube, wir haben auf jeden Fall Jüdinnen und Juden und der jüdischen Kultur in Deutschland gegenüber einer großen Verantwortung. Deswegen haben wir in einem gewissen Maße auch dem Staat Israel gegenüber einer Verantwortung. Gleichzeitig glaube ich jedoch, dass wir gerade wegen unserer Vergangenheit auch eine Verantwortung gegenüber allen Menschen haben, die unterdrückt und diskriminiert werden. Ich finde, dass wir auch diese Verantwortung nicht missbrauchen dürfen, in dem wir bspw. den Staat Israel nicht kritisieren, falls er Unrecht tut. Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber ich hoffe, dass man unterscheiden kann zwischen Kritik am Staat Israel und Kritik am Judentum oder der jüdischen Kultur.
Und:
Das „Thema Israel“ muss auch differenziert behandelt werden. Natürlich hat die Bundesrepublik ein besonderes Verhältnis zu diesem Land aus historischen Gründen, dennoch sollte nicht alles, was Israel als Staat tut, gutgeheißen werden müssen. Es gilt die historische von der aktuellen politischen Diskussion genau zu trennen. Ich finde das sehr schwer und bin froh, dass es auch jüdische Israelis gibt, die das nötig finden.
Einige weitere Beträge im Einzelnen dazu:
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Verantwortung gegenüber Israel bedeutet, die Existenzberechtigung des Staates zu unterstreichen und gleichzeitig die Siedlungspolitik und die Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu kritisieren.
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Zwar ist die kritische Solidarität gegenüber Israel sehr komplex, aber dafür umso notwendiger.
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Wir werden unserer Verantwortung nicht gerecht, wenn wir zur Politik des Staates Israel schweigen oder diese (wo Kritisierens wert) sogar noch unterstützen.
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Es ist allerdings zu wünschen, dass es Meinungsfreiheit auch für Deutsche gibt, die auf Menschenrechtsverletzung von Seiten Israels hinweisen. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Alfred Grosser (deutsch-französischer Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler mit jüdischen Wurzeln) im Audimax der Uni Tübingen (ca. 2010), der auch genau das von uns einforderte: gegen Menschenrechtsverletzungen aufzustehen - auch gegenüber Israel
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Das Verhalten der jeweils gewählten israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern bzw. die Abwehr des Anspruchs auf einen eigenen palästinensischen Staat und die anhaltende Verletzung der Menschenrechte von nichtjüdischen und palästinensischen („Mit“)Bürger*innen“ ist nicht nur kritikwürdig, es muss m.E. unbedingt an vielen Punkten offen und ganz erheblich kritisiert werden.
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Extrem nervig finde ich es, dass man sich kaum kritisch zur Politik Israels äußern kann, ohne als Antisemit zu gelten. Wieso ist das so schwer zu trennen?
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Der Staat Israel fordert selbst etwas ein, dass er anderen ethnischen/religiösen Gruppen nicht zugesteht. Im Israel/Palästina Konflikt kann man doch auch Verfolgung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit erkennen, die moralisch schwer zu vertreten sind. Da ist der israelische Staat nicht immer der Gute. Und ich fände es falsch, wenn wir uns nicht für „das Gute“ einsetzen dürften, weil hier auch Unrecht geschehen ist.
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Auch die säkularen und linken Juden und die Friedensbewegung in Israel haben Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und nicht nur die „rechte Ecke“ um den Zentralrat der Juden, die israelische Regierung und die orthodoxen Juden und Siedler.
Sehr kritisch wurde thematisiert:
Wie kann Verantwortung heute definiert werden? Wo soll sie ansetzen?
Israel ist heute einer der Staaten mit der höchsten militärischen Ausstattung, mit den schärfsten Geheimdiensten. Ich denke ein kritischer Blick muss erlaubt sein – ich sehe heute leider nirgends Ansätze zu einer konstruktiven Lösung der bestehenden Konflikte bzw. gleichberechtigter Lebensbedingungen der israelischen und palästinensischen Bevölkerungsgruppen. Von daher müssen sich ein immaterielle Unterstützungsbemühungen an einem Dialog mit den Friedenswilligen orientieren.
Und:
Kritik am Staat Israel und dessen aktueller Politik (z.B. in Bezug auf die 2 Staatenlösung, im Zusammenhang mit der Siedlungspolitik und illegalen Landnahme, Besatzungspolitik, der Zerstörung palästinensischer Häuser und / oder allgemein gegenüber den Palästinensern, wenn deren Rechte unterdrückt oder mehr und mehr eingeschränkt werden – um nur einiges zu nennen) muss man äußern dürfen. Wobei natürlich auch die von palästinensischer Seite aus begangenen kriegerischen Handlungen und Terrorakte thematisiert und verurteilt werden müssen (Aktion und Reaktion von beiden Seiten).
Es muss möglich sein, dies Tatsachen zu benennen und Kritik daran zu äußern, ohne dass einem reflexartig politischer Antisemitismus vorgeworfen wird, wie dies durch verschiedene jüdische / deutsch-jüdische Organisationen in Deutschland immer wieder passiert. Ich wünsche mir, einen Dialog mit diesen Organisationen, um eine neue Form der Auseinandersetzung mit diesem Thema zu finden und gemeinsam und konstruktiv an gegenseitiger Toleranz zu arbeiten.
Abschließend ein kurzer Gedanke, der in ähnlicher Form mehrfach geäußert wurde:
Der Dialog zwischen (deutschen) Jüdinnen und Juden und der andersgläubigen Bevölkerung unseres Landes, auch jenseits des Religiösen, sollte und muss ausgebaut und ständig praktiziert werden, um einer solchen Verantwortung gerecht werden zu können. Es muss viele unterschiedliche Formen der Begegnung geben (Brauchtum, Kunst, Musik, Literatur, Theater, Tanz …).
Jüdische Kultur muss auch wieder als Teil der deutschen Kultur gesehen und erlebt werden.